Selig, die Verständnis zeigen
(Pfarrerin Katharina Baumann-Schulz)
Das neue Schuljahr hat begonnen, Schulstart oder Schulwechsel sind angegangen; viele kleine Kinder sind neu und in der Eingewöhnungsphase in den KiTas. Weniger planbar und oft nicht vorzubereiten sind die ungewollten Neustarts im Leben: ein Schlaganfall, ein Herzinfarkt, aus dem Glas zu viel wird eine Sucht, eine beginnende Demenz. Oft werden solche nicht gewollten Neuanfänge von den Betroffenen zu spät und von der Umwelt gar nicht wahrgenommen. Aber manchmal ist es auch anders. Die Ehefrau eines an Demenz erkrankten Mannes findet in der Schreibtischschublade ihres Mannes ein Gedicht, in krakeliger Handschrift aufgeschrieben - obwohl ihr Mann doch immer eine wunderbar ordentliche Handschrift hatte…:
„Selig, die Verständnis zeigen für meinen stolpernden Fuß und meine erlahmende Hand.
Selig, die begreifen, dass mein Ohr sich anstrengen muss, um alles aufzunehmen, was man mit mir spricht.
Selig, die zu wissen scheinen, dass meine Augen trübe und meine Gedanken träge geworden sind.
Selig, die mit freundlichem Lächeln verweilen, um ein wenig mit mir zu plaudern.
Selig, die niemals sagen: ‚Diese Geschichte haben Sie mir heute schon zweimal erzählt‘.
Selig, die es verstehen, Erinnerungen an frühere Zeiten in mir wachzurufen.
Selig, die mich erfahren lassen, dass ich geliebt, geachtet und nicht allein gelassen bin.
Selig, die in ihrer Güte die Tage erleichtern, die mir noch bleiben auf dem Weg in die ewige Heimat.“
Das Original ist ein Gedicht, welches eine alte Dame in Afrika geschrieben hat. Man hat es erst gefunden, als sie verstorben war. Das Personal aus dem Heim, in dem sie wohnte, war der Meinung, dass die Frau weder hören noch sehen könnte.
Mir fällt zu diesem Erlebnis immer Jesu Geschichte vom barmherzigen Samariter ein. Da sagt ein Schriftgelehrter zu Jesus: „Ich weiß ja, dass ich meinen Nächsten lieben soll, aber wer ist denn mein Nächster?“ Und Jesus erzählt ein Beispiel von einem, der unter die Räuber fällt, und nun geschlagen, halbtot am Wegrand liegt; zwei vermeintlich fromme Leute gehen vorbei und lassen ihn hilflos liegen, aber der dritte, ein Samariter, der hilft und kümmert sich um den, der unter die Räuber gefallen ist. Jesus fragt nun den Schriftgelehrten. Was würde wohl der unter die Räuber gefallene Mann sagen, wer sein Nächster gewesen sei? Die Antwort aus der Sicht des Verletzten liegt auf der Hand: der nächste ist der, der barmherzig war und geholfen hat. Jesus lädt zu diesem Perspektivwechsel ein: Das könnte ja ich sein, der da halb tot und ausgeraubt auf der Straße liegt. Und dann wäre meine einzige Überlebenschance ein Mensch, ein Nächster, der Verständnis zeigt.